Isoko fotografiert eine hübsche Italienerin
In: Zeitschrift KUNST 5 –10, Heft 51/2018 (Friedrich Verlag), S. 44 ff.
Isoko fotografiert eine hübsche Italienerin
Eine flüchtige Szene in der National Gallery in Washington (USA): Wie unzählige andere Besucher zückt ein deutscher Kunsttourist eifrig sein Smartphone und hält – nach eingeholter Zustimmung – eine junge Japanerin per Digitalfoto fest, die zeitgleich damit beschäftigt ist, das Gemälde einer noblen Italienerin per Handy festzuhalten (Abb. 1). Ihr Bildergebnis möchte Isoko, wie sie im Smalltalk preisgibt, später als Gedächtnishilfe in ihrer Heimat nutzen.
Auf dem Display der japanischen Touristin kann man das frontal aufgenommene „Abbild vom Bild“ deutlich erkennen. Analog dem Vorbild ist auf ihrem Screen – fototechnisch freilich verkleinert – das reproduzierte Bildnis der etwas blass aussehenden Ginevra de` Benci zu erkennen, so wie sie um 1474 von Leonardo da Vinci in Florenz mit Tempera und Öl auf Pappelholz mit höchst naturalistischen Ansprüchen gemalt wurde. Es handelt sich um das einzig verbürgte Porträt des Genies in Nordamerika.
Unser festgehaltenes „Standbild“ der kosmopolitischen Situation zeigt eine alltägliche, nicht ungewöhnliche Begegnung mit historischer Kunst und erscheint aufgrund seiner bild- und medientheoretischen Wechselbeziehungen lohnend für eine Betrachtung. Unverkennbar wird darin eine mittlerweile verbreitete, doch zugleich auch veränderte, durchaus fragwürdige Praxis veränderter Bildrezeption sichtbar, die über ihre kunstinteressierten „User“ längst Einzug in die Musentempel unserer Welt gefunden hat. Anscheinend stellt die in keiner Weise inszenierte oder arrangierte Situation, die den imaginären Standpunkt des eifrigen Fotografen* einschließt, mehr dar als nur einen flüchtigen Trend innerhalb globaler Digitalisierung. Zur Erinnerung: Erst 2007 kam das erste iPhone auf den Markt, inzwischen benutzen 78 Prozent (!) der Deutschen über 14 Jahre ein Smartphone (Bitcom-Studie 2017). Besucher informieren sich heute im Vorfeld eines Museumsbesuchs über das Internet, nutzen Streams oder Videoclips von YouTube – und die meisten bedeutenden Sammlungen verfügen inzwischen über Websites mit „vorbildlichen“ Serviceangeboten. Anscheinend werden durch die online generierten Sehhilfen auch die üblichen Fotobeschränkungen durch die massenhafte Verfügbarkeit unkontrollierbarer Handys und winziger Kameras listig ausgehebelt. So wie es unser Beispiel vewranschaulicht.
Kunsttransfer durchs Internet
Weithin sind es vor allem die jungen Nutzer, deren Generation durch Internet und hochentwickelte Medien geprägt wurde wie keine zuvor. Und in deren ausgedehnten Umgangsformen zählt vor allem auch die Präsentation, auch wenn sie flüchtig ist. Bei Facebook, Twitter, WhatsApp, Instagram und Co geht es meist weniger um ernsthaften inhaltlichen Austausch, sondern eher um wirkungsvolle Selbstinszenierung, ungezwungenen Bildtransfer, rituelle Kontaktpflege. Alles muss sofort erfolgen, es geht darum, Spuren in der Welt zu hinterlassen: Zeige Dich, damit Du bist! So wird auch das von der National Gallery als besonderes „Highlight“ ausgewiesene Original Leonardos blitzschnell vor Ort reproduziert – gern auch als Selfie – und ins www gepostet. Ein Klick genügt – als wäre ein Beweismittel gesichert. Schrumpft das Highlight etwa zum dekorativen Kulissenmedium?
Ob im Blick auf die Rezeptionsfrage bei diesen flinken Aktionen die ästhetischen und bildimmanenten Feinheiten des „Vorbilds“, wohlgemerkt eines außergewöhnlich erlesenen Kunstwerks des 15. Jahrhunderts, hinreichend wahrgenommen werden, entzieht sich unserem Einblick. Von den emotionalen Komponenten der Bildsympathie jedes einzelnen Betrachters und seinen bildungsabhängigen Voraussetzungen abgesehen, wissen wir hingegen, dass sich nur über fragendes Interesse, geduldige Zuwendung und Entdecken symbolischer Hinweise visuelle Andeutungen hinreichend erklären lassen. Wie zum Beispiel jene der atmosphärisch aufgeladenen Landschaft im Hintergrund mit ihren dunklen Wachholdersträuchern (ital. „ginepro“), die sich als subtile linguistische Anspielung auf den Vornamen Ginevra beziehen. Oder was legt die vornehme Blässe der Bildschönen nahe? Der man in Florenz im höfischen Umkreis des großen Cosimo huldigende Gedichte widmete? Den Quellen zufolge rühmte sogar Giorgio Vasari den „göttlichen Lionardo“ in den allerhöchsten Tönen für sein als absolut lebensnahes Bildnis, es sei „cosa belissima“. Wieder rückbezogen auf die Bildelemente unseres beziehungsreichen Digitalfotos, auf dem die Begriffe von Original und Kopie verschwimmen, lässt sich anfügen, dass sich der Topos der abgewandten Rückenfigur ebenfalls nur über fundierte Kontextinformationen erschließen lässt.
Maßlose Bilderzeugung
Offen bleibt die Nachfrage, welche kollektiven Beweggründe der Anfertigung so unzähliger Digitalbilder und ihrer Verbreitung via Internet wohl zugrunde liegen mögen, denn es geht hierbei nicht um ein paar beliebige Kunstliebhaber, die aus allen möglichen Ambitionen heraus ein Unikat fotografieren. Wir registrieren allerorten, so wie auch hier, eine beobachtbare, undefinierbare Massenbetätigung ungestümer Bilderzeugung, die, virtuell in Umlauf gebracht, weltweit leicht Milliardenzahlen überschreitet. „Gerade diese sich auftuende weite Spanne der unübersehbar im Internet verfügbaren, so nützlichen wie überflüssigen, so schönen wie kitschigen und so informativen wie perversen Bilder hat jenen Grundton wieder anklingen lassen, der mit jedweder technischen Revolution der Bildmedien verbunden war: Sie bedeutete das Ende oder zumindest die Marginalisierung der bisherigen Bildträger.“ (Bredekamp 2004, S. 21) Benötigen kunstwissenschaftliche Rezeptionstheorien aus diesen Gründen ein Update?
Der häufig im Kontext zitierte Walter Benjamin (1892–1940), hatte als Erster in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts in „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ die wesentlichen Konsequenzen aus der zunehmenden Verkümmerung der Aura des Werkes herausgearbeitet. Er konnte nicht vorausahnen, welche hybriden Auswüchse die schon damals eingeleitete Entwertung der Werke durch ihre massenhafte Verbreitung durch Fotografie und Film mit sich bringen würde. Es klingt paradox: Die oft beklagte, in der heutigen Mediengesellschaft erzeugte gigantische Bilderschwemme mit ihrer ständig noch weiter anschwellenden „Flut von Bildern“ hat mit dem von W.T.J. Mitchel schon1992 konstatierten „pictorial turn“ das Einzelbild im Wirbel massenhafter Verbreitung und Zirkulation nahezu wirkungslos werden lassen!
Fotografie vs. Betrachtung
Eine Reihe argwöhnischer Fragen drängen sich auf zum gewandelten Umgang mit Kunst in der Informationsgesellschaft, von dem Kinder und Jugendliche durch die immer weiter zunehmende Mediatisierung und Apparatisierung zukünftig betroffen sein werden. Schon früh haben Kunst- und Museumspädagogen daher die Möglichkeiten digitaler Basics für ihre Klientel propagiert und ihre methodischen Repertoires immens erweitert. Inzwischen gehört, wie viele publizierte Beiträge und Unterrichtsvorschläge bestätigen, der sinnvolle Gebrauch von Tablets, Smartphones oder Digitalkameras bei der Beschäftigung mit Museumskunst häufig dazu (s. K+U, Heft 415/416 2017). Für reichlich Zweifel gegenüber aller digitalen Euphorie sorgt allerdings eine mit jungen Besuchern durchgeführte US-Studie, die empirisch belegt, dass Fotos dem Aufbau detailreicher Erinnerungen eher im Weg stehen: "Probanden, die bei einem Museumsbesuch fotografierten, konnten sich anschließend schlechter an die Ausstellungsstücke und Details ihres Aussehens erinnern als Menschen, die das Museum nur betrachtend erkundet hatten." (Henkel 2013)
© der Autor
Quellen
Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Reclam Verlag, Leipzig 2011
Horst Bredekamp: Drehmomente – Merkmale und Ansprüche des iconic turn. In: Christa Maar, Hubert Burda (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. Köln 2004
Linda A. Henkel: The Influence of Taking Photos on Memory for a Museum Tour.
Psychological Science, 2013, pp. 396-402. Siehe:
http://journals.sagepub.com/keyword/Digital+Cameras (Zugriff Feb. 2018, engl.)
Kunst+Unterricht, Heft 415/416 2017, Titelthema „Mit Smartphones und Tablets“: „Im Kunstunterricht kommt das Smartphone inzwischen häufig und ganz selbstverständlich zum Einsatz: sei es als Recherche-Instrument, Fotoapparat oder Video-Kamera.“ (S.1)
Sascha Lobo: Daten, die das Leben kosten. In: Frank Schirrmacher (Hg.): Technologischer Totalitarismus. Eine Debatte. Berlin 2015, S. 107-117
Nachtrag:
»Selbstbild als Grundzug des Menschen
Ob mit Pinsel oder mit Smartphone: Die Beschäftigung mit sich selbst, ist so alt wie die Menschen. Pia Müller-Tamm, Direktorin und Projektleiterin der Ausstellung "Ich bin hier" in Karlsruhe, ist der Meinung, dass ein "Museum das Thema nicht kulturpessimistisch ausblenden darf." Sie spricht davon, dass die "moderne Mitteilungssucht ein Grundzug des Menschen ist." Im 19. Jahrhundert mussten sich die Fotografen noch kompliziert mit einem Spiegel behelfen. In der Ausstellung "Ich bin hier" (...) ist zu sehen, dass das Selbstporträt heutzutage einfacher aufzunehmen ist: in Form von Selfies von Ai Weiwei zum Beispiel. Der chinesische Dissident, der seit ein paar Monaten in Deutschland lebt, ist einer der ersten, der das Smartphone-Selfie als künstlerisches Medium genutzt hat. Eine Selfie-Ikone ist das Foto vom 12. August 2009, das den Augenblick dokumentiert, in dem Polizisten ihn vorübergehend festnehmen.«
Quelle: http://www.dw.com/de/das-ich-als-kunstwerk-vom-selbstporträt-zum-selfie/a-18812939