Óscar Muñoz:
»Re/tratos« - flüchtige Portraits aus Wasser



Óscar Muñoz: »Re/tratos« - flüchtige Portraits aus Wasser.
In: Zeitschrift KUNST 5 –10, Heft 37/2014 (Friedrich Verlag), S. 44 ff.


Abbildungen unter:


http://art.thehighline.org/project/oscarmunoz/

http://www.sicardi.com/artists/oscar-muoz/artists-artist-works/

http://www.ok-centrum.at/sites/ok-centrum.at/files/bilder/presse/2009/Jahresprogramm09/munoz1.jpg


Unter dem Motto »Think with the Senses – Feel with the Mind« leitete der amerikanische Kurator Robert Storr die 52. Biennale in Venedig (2007), auf der auch Óscar Muñoz mit seiner Videoprojektion "Re/trato" vertreten war. Sie blieb bislang die einzige Arbeit, die zwei Mal hintereinander auf der Weltschau gezeigt wurde. In meiner Erinnerung bewegten sich im Langbau des Arsenale die Besucher im gemächlichen Schlendergang durch das Labyrinth von Werken und Stationen. Viele Kritiker monierten seinerzeit, es befänden sich, dem grassierenden flimmernden Trend entsprechend, allzu viele Videoarbeiten, Filme, Spots, Screens in den Pavillons. Doch während manche dieser – längst fest etablierten – Medienproduktionen nur flüchtige Beachtung fanden, bildeten sich an den nebeneinander laufenden Projektionen von Óscar Muñoz auffallende Menschentrauben. Was zog ihre Aufmerksamkeit so unwiderstehlich an? Was lieferte angesichts solch intuitiver Reaktionen den auslösenden Impuls zur bevorzugten Betrachtung? Was war an den auffallend kargen Videos so ungewöhnlich?


Mit einfachsten Mitteln Bedeutung erzeugen

Óscar Muñoz, 1951 in Popayan/Kolumbien geboren und bis heute in Santiago di Cali lebend, bezeichnet seine international bekannten Werke in eigenwilliger (span.) Schreibweise als »Re/tratos« – die man, bezogen auf ihren Bedeutungsgehalt, schlicht mit »Portraits« oder auch »drawings« (engl.) übersetzen könnte. Auf der gezeigten Fünf-Kanal-Projektion im Arsenale mit dem Titel »Proyecto para un memorial« (Projekt für ein Denkmal, 2003-05) zaubern unentwegt flüchtige Hände mit sgekonnten Pinselstrichen monochrom anmutende Portraits auf einen hellen Asphalt-Untergrund. »Aber kaum ist ein Auge fertig, trocknet das Haar schon weg, nimmt das Kinn Kontur an, verschwindet der Mund. Wir sehen dem Verblassen einer Erinnerung zu, der Vergeblichkeit, ein Bild zu fixieren«, notiert eine Kritikerin.(Vogel 2010). Das vorgeführte, lediglich aus Hell/Dunkel bestehende ästhetische Verfahren, das nur die von hellem Licht erzeugten kontrastreichen Schlagschatten festhält, erscheint dabei simpel und leicht nachvollziehbar. Liegt vielleicht darin, in dieser sinnlich eindringlichen Kunst des Weglassens, sein besonderer Reiz?

Muñoz führt uns eindrucksvoll vor Augen, wie im filmisch festgehaltenen Prozess der Erzeugung einfachster Spuren Bedeutung entstehen kann. Als Vorlage nutzt er meist markante Charakterköpfe anonymer Personen, die er bevorzugt den Todesanzeigen regionaler Tageszeitungen [Cali gilt als eine der gefährlichsten (Drogen-)Städte der Welt !] entnimmt. Gelegentlich verwendet er für seine »solid drawings« auch Selbstportraits. Angesichts der sich kontrastreich abhebenden Schatten der Gesichtszüge und ihres monochromen Tonwertes, der den Abstraktionsvorgang des dynamischen Pinselzeichnens noch zusätzlich steigert, könnte man sofort an das traditionsreiche Medium chinesischer Tuschezeichnungen denken oder auch an jene rasch hingeworfenen Stencils (Schablonen-Grafitti), wie sie etwa global von Bansky als subversive Street-Art in Umlauf gebracht wurden. Doch diese Anhaltspunkte trügen, da es nicht beim vorgeführten bildaktiven Wechselspiel bleibt, das zu einem fertigen Ergebnis führt. Denn bei Muñoz »verdampfen« die dynamischen Zeichnungen wortwörtlich vor den Augen des Publikums, das heißt, alle lediglich mit Wasser flott skizzierten Bildnisse verschwinden innerhalb von Sekunden auf dem – vermutlich erwärmten – Bildträger. Sie löschen sich förmlich selbst aus. In diesem zeitlich komprimierten Schauprozess versuchen die magischen Zeichenhände unaufhörlich, die inkonsistenten Ikons zu erneuern. Vergeblich. Sie verschwinden ebenfalls in der Leere des Malgrundes.


Zur Kunst des Weglassens

Zwei Ausblicke der Reflexion sollen den Diskurs zum Thema »Zeit« anregen. Der eine bezieht sich auf die schon beschriebene, prozesshafte Art der Bilderfindung, die sich angesichts der gezeigten Sequenzen zugleich als eine ›Kunst des Weglassens‹ charakterisieren lässt. Durch die ablesbare, wiederum zeitabhängige Reduktion auf das Wesentliche wird der demonstrierte methodische Weg dabei fortwährend wiederholt. Dadurch wird unter Vernachlässigung weiterer zeichnerischer Modellierungen das künstlerische Vorgehen erkennbar vereinfacht. Analog dieser hier gezielt verfolgten Reduktion bemerkt ein Lehrbuch: »Weniger ausgearbeitete Bildpartien wirken in einem solchen Gefüge nicht unfertig, sondern offen und lebendig. Die Wahrnehmung wird aktiviert und zu eigenen Ergänzungen angeregt. Großen Zeichnern war [...] bewusst, dass die Spannung von durchgearbeiteten Teilen, nur angedeuteten Partien und gänzlich leeren Flächen die Bildqualität erhöht.« (Engelmann/Wunderlich, S. 27) Könnte diese Auskunft eventuell auch die erwähnte besondere Aufmerksamkeit des Publikums erklären?

Der andere sich geradezu aufdrängende Gesichtspunkt bezöge sich auf die ikonologische Dimension der »Re/tratos«, denn ihr filmisch vorgeführtes Entstehen und Vergehen, ihr Changieren zwischen materieller Existenz und Auslöschung, zwischen Erinnerung und Erkenntnis kann auch als metaphorische Denkfigur für den Widerstand gegen die physische Vergänglichkeit, demgemäß als Memento mori (lat. Gedenke des Todes) gelesen werden. Die vom Verstand gesteuerten, Sinn schaffenden Hände als Werkzeuge des Intellekts generieren Erinnerungszeichen, die symbolisch auf die Vergeblichkeit alles Irdischen verweisen. Denn mit dieser radikalen Geste der Tilgung seiner Bildwerke, die den vergeblichen Mühen des Sisyphus ähnelt, stellt Óscar Muñoz natürlich nicht nur die eigenen Werke, sondern generell auch die scheinbaren Ewigkeitswerte künstlerischen Schaffens in Frage. So wie es der tragischen Gestalt im Mythos misslingt, einen Stein auf den Berg zu rollen, scheint Muñoz ständig daran zu scheitern, ein Abbild zu komplettieren.



Quellen:

Kat. 52. Biennale di Venezia (engl.): Think with the Senses – Feel with the Mind. (Partizipating Countries, Collateral Events). Venice 2007

Engelmann, Bert/Wunderlich, Gisela: Praxis Kunst, Zeichnung (Materialen für den Sekundarbereich I und II). Hannover 1996 (Schroedel)

Vogel, B. Sabine: Vergänglichkeit als Dauerzustand. Oscar Muñoz im OK (Offenes Kulturhaus Oberösterreich, Linz); in: http://www.artnet.de/magazine/oscar-munoz-im-ok-offenes-kulturhaus-oberosterreich-linz (Zugriff März 2014)



© Werner Stehr