Rezension in: Kunst+Unterricht, Heft 352/353, 2011, S. 61 ff.



"Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.“ Diesen erheiternden Aphorismus setzte nicht, wie oft angenommen, Francis Picabia in die Welt, sondern Oscar Wilde, dessen Autorenschaft verbürgt ist. Er schwingt als Erwartungshaltung bei der Lektüre des 469seitigen Wälzers mit. Liefert der korpulente Sammelband, der ja eine in mehreren Passagen angekündigte Orientierung bieten möchte, mit seinen 47 (!) Einzelbeiträgen nun tatsächlich einen aktuellen Einblick in die kunstpädagogische Theoriewerkstatt?

Man einigte sich neben einer Einführung auf vier plausibel erscheinende Unterkapitel: Schule, Gesellschaft, Bildkultur und Entwicklungen. Soviel lässt sich vorwegnehmen: Im Vergleich zu einigen Publikationen vorangegangener Tagungen, Symposien oder bereits publizierten Einzelbeiträgen wird hier ein üppiger Anspruch aufgetischt, der den von vielen erwarteten Transfer zur ästhetischen Praxis mit einem bunten Mosaik von Beispielen leisten mlöchte. Und dass solch ein gewaltiges Unterfangen im Blick auf die unterschiedlichen Sichtweisen und Arbeitsschwerpunkte der Autorinnen und Autoren letztlich eine Art Handbuch generierte, war sicher nicht von vornherein gedacht. Festgestellte, wohl auch unvermeidliche Überschneidungen innerhalb der Sammlung oder Rückfragen bezüglich der manchmal eigenwilligen Zuordnung einzelner Beiträge unter die erwähnten Rubriken, sind zu dulden. Und dass solch ein Sammelband – einer offensichtlich disparaten Wissenschaft – nicht mit dem Anspruch von Übereinstimmung und Eintracht antreten kann, das versteht sich fast von selbst.

Wechselt nun das Denken seine Richtung? Immerhin stehen mehrere Orientierungsfragen im Raum: Wie artikuliert sich gegenwärtig fachpädagogisches Denken? Wie soll es zukünftig weiter gehen? Werden im Blick auf Studienanfänger, Berufseinsteiger oder an Weiterbildung interessierte überzeugende Inhalte, vielleicht ein roter Faden, vorgeschlagen? Wo oder durch welche Personen sind gegenwärtig qualitative Verbesserungen repräsentiert? Und an die im Wissenschaftsbetrieb (leider) etablierten Verächter einer zeitgemäßen Bildungsdiskussion adressiert: Sollte es nicht endlich darum gehen, die Kräfte zehrende Kampfrhetorik beiseite zu legen? Mit ihr ist die Kunstpädagogik bekanntlich seit jeher geschlagen. Ist es nicht möglich, ihr  ein weiterführendes, nämlich seriös unterfüttertes, gewissermaßen von allen getragenes Aufgabenverständnis entgegenzusetzen? Und: Welche kunstpädagogischen Absichten oder Inhaltskomponenten taugen perspektivisch und realistisch zur Nachjustierung? Welches Fachverständnis lässt sich – daraus folgernd –  in partei- und kulturpolitische Lenkungs- und Entscheidungsgremien hinein vermitteln?

Offenkundig erscheint in vielen Passagen des Bandes, dass die in den letzten Jahren systematisch übergangene ästhetische Erziehung (Stichwort PISA) sich im Zuge ihrer Selbstbehauptung viel intensiver als früher am kulturpolitischen Diskurs beteiligt, - so widersprüchlich, unberechenbar oder unzumutbar jener auch im erscheinen mag. Die vorläufig an Universitäten auch weiterhin gelehrte Kunstpädagogik könnte mit ihrem gesellschaftlichen Nutzen, so auch die Essenz mehrerer Beiträge, mit ihren ausgewiesenen Möglichkeiten, Leistungsangeboten, Instrumentarien dazu beitragen, in der gegenwärtigen, verwirrenden und oft unverständlich erscheinenden Welt einen Beitrag zur kulturellen Teilhabe und sozialen Integration ihrer Klientel zu leisten, um damit Orientierung, Chancen, Sinnhaftigkeit zu vermitteln. Bilstein spricht hierbei von einer „Metaphorik der Sorge“, wie er sie z.B. vorbildhaft in den Netzwerken der U.S.-amerikanischen arts-education-partnership-Projekte“ (S. 30) verwirklicht sieht. Man könnte dies alles ganz simpel auch mit Verantwortung für die nachfolgende Generation übersetzen. Das hört sich zwar etwas salbungsvoll an, ist es im Kern aber überhaupt nicht, denn es spiegelt lediglich den aus Verfassungsvorgaben abgeleiteten bildungs- und sozialpolitischen Auftrag, dem alles staatlich getragene Erziehungshandeln in praxi zugrunde liegen soll. 

Angesichts des erheblichen Umfangs der Sammlung kann es sich nach meinem Eindruck zunächst nur um einen gewichtigen Impuls, eine Art Vorstufe handeln, also eher um eine lebendige Erörterung gegenwärtiger Lehr- und Lernpraxis, als um ein geschlossenes Rahmenwerk. Vielleicht könnte dies mittelfristig zu einem konsensfähigen Rahmencurriculum zur geforderten „Konsolidierung“ der bundesdeutschen Kunstdidaktik führen. Ein Wunschbild? 

Unmöglich angesichts eines solchen Ausmaßes die vielen versteckten Perlen, von denen es eine Vielzahl gibt, hinreichend zu würdigen. Deshalb begrenzte Einblicke:

Clemens Höxter, einer der drei Eröffnungsredner neben Akademiedirektor Tony Cragg und Johannes Bilstein, übernimmt einen Part, um mit der etymologischen Begriffsklärung von „Orientierung“ das Anliegen der Tagung/des Sammelbandes zu verdeutlichten. Gleich zwei programmatische Aufsätze, allerdings verschiedenartig in ihren epistemischen Begründungslinien, schließen sich zum Status quo der „Kunstpädagogik in einer sich ändernden Schule“ an (vgl. Bilstein im Vorspann und Kirschenmann im Kap. „Schule“, S. 37ff.). Jedem interessierten Leser würde ich empfehlen, an dieser Stelle einfach zu springen, um ab Seite 153 den Beitrag von Hubert Sowa zu lesen. Er passt nämlich aufgrund seiner delikaten Zuspitzung vorzüglich zu den beiden zuvor genannten Texten. Gut, er kommt etwas unrasiert oder ungekämmt daher, dafür bringt er aber die Sachverhalte auf den Punkt. Und dass er dafür mit Herabsetzungsphantasien überzogen wurde, spricht ja an sich nur für seine Treffsicherheit. Er seziert vor allem die üblichen Abwehrstrategien behäbiger Fachvertreter, die in ihrer „selbstfremden Subjektivität“ (siehe in Sowas Text Anm. 31 u. folg.), mit Esoterik oder der allzu bekannten Drückebergerei sich verweigern, ihren Lehrauftrag professionell wahrzunehmen.

„Unser Kopf ist rund...“, wie gesagt, insofern lassen sich die drei Statements natürlich konstruktiv weiterdenken: Damit keine Universität ausschert, bräuchte es neben den Bologna-Vereinbarungen eine Institution, die im Interesse aller Kunstpädagogen die nationalen Entscheidungen steuert und beratend überwacht. In der zitierten Begrüßungsrede wurde aus einer Schrift (Was heißt: sich im Denken orientieren? (1786)) Immanuel Kants zitiert: „Sich im Denken überhaupt orientieren heißt also: sich, bei der Unzulänglichkeit der objektiven Prinzipien der Vernunft, im Fürwahrhalten nach einem subjektiven Prinzip derselben bestimmen.“ In seinem Argwohn gegenüber aller Freigeisterei – als Feind des Denkens - befinden wir uns mit ihm in bester Gesellschaft.

Wir blättern wieder zurück. Bettina Uhlig beispielsweise berichtet von den Vorzügen des Imitationslernens „Zur Rolle von Anschauung und Nachahmung bei der Entwicklung der kindlichen Bildsprache“ (S. 61 ff.) oder Sara Hornak schlägt von einem aktuellen kunstwissenschaftlichem Exkurs „Abdruck und Abformung – Zur Präsenz des Abwesenden in der Kunst...“ (S. 51 ff.) die unverzichtbare Brücke zur ästhetischen Praxis. Mehrere informative Beiträge – aus verschiedenen Bundesländern –  sprechen die nicht unproblematische Beziehung zwischen „Künstlern und Kunstpädagogen“an (vgl. u.a. Rudolf Preuss, S. 179ff., Ingrid Merkel, S. 187 ff. oder Mona-Sabine Meis, S. 223 ff.) sowie die bewährte Kooperation mit der Museumsarbeit (vgl. Peter Schüller, S. 231 ff., Sonja Brink, S. 237 ff., Alfred Czech, S. 263 ff. oder Jutta Ströter-Bender, S. 333 ff.).

Aufschlussreich ist, weil ähnliche Entwicklungen in der Bundesrepublik zu beobachten sind, der Bericht von Kolleginnen aus Luxemburg (S. 69 ff.) Sie sind vom Optimismus getragen, „ein vom Verschwinden bedrohtes Fach (...) retten (zu wollen)“. (ebd.) Illusionen? Durchblick? Weitsicht? Ich weiß nicht warum, es erinnert mich irgendwie an jene Szene in „High Noon“, in der Amy von einem Schurken einen Colt in den Rücken gedrückt bekommt. Und wundere mich, jetzt wieder ganz bei der Sache und der vertrackten Standard- und Kompetenzdiskussion zugewandt, über die im geschmeidigen Jargon laptopgerüsteter Lehrplankonstrukteure geschriebene, sicherlich nicht tröstlich gemeinte, Nebenbemerkung: „Gegenüber einem produkt- und stofforientierten Unterricht, für den Inhalte und Ziele eng vorgegeben sind, wird der kompetenzorientierte Unterricht nun prozessorientiert angelegt und die fachliche Entwicklung der Schüler über einen längeren Zeitraum beobachtet. Bildungsstandards geben nicht lediglich Inhalte vor. Sie definieren Maßstäbe, in denen sich Inhalte, Können und Einstellungen verbinden.“ (S. 70) Aha, denkt der perplexe Leser, - es geht ja schließlich um Neuland. Als ob die kompetenzorientierten Lektionen ohne Stoffe oder Ergebnisse auskämen, - glaubt man tatsächlich, dies wäre neu? Man kann aufatmen. Denn gemessen an den vergilbten Folien curricularer Rahmenvorstellungen, wie sie beispielsweise Robinson oder Klafki vor etwa einem halben Jahrhundert vortrugen, eine geradezu beschämend erscheinende Neuerung. Insofern kann auch das anschließend von Jutta Johannsen vorgestellte und dem Leser bereits bekannte BDK-Modell „Bildungsstandards und Kompetenzorientierung...“ (S. 75) oder der unten erwähnte Exkurs von Bos et al (S. 407 ff.) nicht wirklich Begeisterung hervorrufen. Sie zeigen lediglich in minimalistischer Manier, wie unter fiskalischen, neoliberalen oder restriktiven Zwängen eingeleitete Reformen - mit dem verborgenen Subtext von Vereinheitlichung, Vereinfachung, Zentralisierung, Kostenreduzierung, Messbarkeit von Bildungsleistungen, Output-Steuerung et cetera – für die Kunstpädagogen konkret auszusehen haben (siehe dazu die ernüchternden Ausführungen zum NRW-Zentralabitur, S. 81 ff. ). Aus der wissenschaftlich reflektierten Froschperspektive wurde insbesondere die extreme Segmentierung durch die Kulturhoheit der einzelnen Bundesländer kritisiert. Auch wird immer deutlicher, dass die häufige Trennung von Kultus- und Wissenschaftsministerien gegen die im Bologna-Prozess angestrebten internationalen Angleichung der Studienstrukturen und -abschlüsse steht, – vom föderalistischen Wirrwarr der Diskussion um Schulformen und -strukturen ganz zu schweigen.

Doch zurück zum Reich der Notwendigkeit. Gleich mehrere Autorinnen und Autoren arbeiten sich, unabhängig von der etwas willkürlich erscheinenden Rubrizierung unter das erste, zweite oder letzte Kapitel (vgl. dort den Beitrag von Wilfried Bos et al: Kompetenzmessung im Fach Kunst..., S. 407 ff.) an den vorgestanzten Auflagen der Kultusministerkonferenz ab. Zwangsläufig orientieren sie sich dabei pragmatisch an den verordneten Hürden mit beispielhaft oder interdisziplinär angelegten Unterrichtsbeispielen, Forschungsberichten oder Problemskizzen, ohne dabei allerdings ihre Freiheitsräume als Agierende in verschiedenen Vermittlungskontexten aufzugeben. Resignation gegenüber den Regelwerken wäre auch völlig fehl am Platz, u. a. zeigen dies Constanze Kirchners Überlegungen zur Integration von Kompetenzstandards und zu interdisziplinären Erweiterungen in der Grundschuldidaktik (S.253 ff.) sowie der aufschlussreiche, mit detailliertem Quellenmaterial gespickte Exkurs der schon mehrfach genannten Gruppe um Wilfried Bos.


Das dritte Kapitel schließlich widmet sich dem inzwischen fest etablierten Sachgebiet der Bildkultur und wird von Kunibert Bering mit einem aufschlussreichen Aufsatz (Kunstpädagogik und Bildkultur, S. 283 ff.) eingeleitet. Es folgen 14 qualitativ unterschiedliche Aufsätze und Projektbeschreibungen, in denen die Autorinnen und Autoren erläutern, wie analoge oder digitale Medien den Lernprozess der Schülerinnen und Schüler entscheidend beeinflussen, voranbringen und erleichtern, wenn sie durchdacht und zweckdienlich im Unterricht Eingang finden. Bei der Lektüre fand ich nicht so recht den Zugang zu Guido Reuters Beitrag (Der `getäuschte´ und `enttäuschte´ Betrachter..., S. 311 ff.) ausgerechnet an dieser Stelle, und warum Michael Grauers kunstwissenschaftlicher Diskurs zur „Kunst und Kunstpädagogik im Medienzeitalter“ (S. 269) oder Klaus Küchenmeisters schlapper Bericht über die „Handyfilme“ (S.227) nicht unter der Rubrik „Bildkultur“ verortet wurden, blieb für mich kryptisch. Vermisst hat der Leser überhaupt nicht die schon zig Mal wiederholten Erfolgsberichte herausgehobener Schulen (vgl. Torsten Meyer et al, S. 303 ff), sondern z.B. konkrete Hinweise auf IT-gestützte Unterrichtsstunden – nach PISA - insbesondere für leistungsschwache oder durch Migration benachteiligte Schüler, um ihnen Chancen zu bieten, ihr Lernen positiv zu beeinflussen. Erinnert sei erneut z. B. daran, dass ein Arbeiterkind im Jahr 2005 nur eine Chance von 17% hatte die Hochschule zu besuchen, die Chance eines Akademikerkindes lag dagegen bei 83%. Allein die Tatsache, dass die Eltern nicht studiert haben, unabhängig von ihrer beruflichen Stellung, reduziert die Hochschulbeteiligung ihrer Kinder auf 23%. Auch lassen sich die von Eckhard Klieme publizierten neuesten Ergebnisse von PISA 2009 ins Feld führen, in denen der Lernumgebung eine herausragende Schlüsselrolle zukommt. Ganz zu recht wurde darauf hingewiesen, dass bildgestützte Lernprozesse und digitale Medien, einerlei ob in häuslicher Umgebung oder in der Schule, in besonderem Maße motivieren und prädestiniert sind, zum selbsttätigen Lernen anregen.

Und weil ich schon beim Nachsuchen bin: Zum Anspruch von „Orientierung“ hätte ich mir einige bescheidene Hinweise für interessierte Einsteiger, also zur Studienstruktur, Modularisierung oder generell zur Ausbildung von Kunstpädagogen in verschiedenen Phasen oder Schulformen gewünscht. Wie kann es z. B. gelingen, den Anschluss oder eine Annäherung an unterrichtliches Handeln in der Ausbildung ab einem sinnvollen Zeitpunkt der universitären Lehrerbildung zu finden, ohne die notwendigen theoretischen und reflexiven Belange kunstpädagogischen Handelns zu vernachlässigen? Wie kann die Theorie-Praxis-Vermittlung unter gemeinsamen Zielen von qualifizierten Hochschullehrern und Fachleuten unter den Dächern von Universitäten, Seminaren oder Schulen so organisiert werden, dass ein systematischer Aufbau und ein zielführender Professionalisierungsprozess in der Anfangsphase des Berufs wirksam eingeleitet wird? Aber das wäre wohl ein eigenes Thema.

Die mit den einzelnen Beiträgen dieses Bandes vorgelegte Bilanz kann sich sehen lassen. Unbeschadet der geringfügigen kritischen Überlegungen lässt sich feststellen, dass es sich bei der Sammlung um eine Mixtur anschaulich geschriebener, instruktiver, oft praxisnaher Aufsätze für angehende, lehrende, praktizierende oder nur beobachtende Kunstpädagogen in allen Schulstufen und -formen handelt. Zu empfehlen!


© Werner Stehr




Rezension:

Orientierung: Kunstpädagogik.

Bundeskongress der Kunstpädagogik

Herausgegeben von Kunibert Bering, Clemens Höxter, Rolf Niehoff in Zusammenarbeit  mit dem BDK und der Kunstakademie Düsseldorf. Oberhausen 2010 (ATHENA-Verlag)